Stressphase 2 -
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Zuerst hatte sich die kleine Karin wegen der Schule „krank gefreut“, als sie dann die Schule von innen sah, wurde sie erst richtig krank. Und das kam so: Schon Wochen vor der Einschulung war das Mädchen schrecklich aufgeregt. Als dann der Tag der Einschulung bevorstand, musste sie sich ins Bett legen: Leibschmerzen, Fieber, Erbrechen.
Der Zwischenfall war schnell vergessen, als sie schließlich mit Gleichaltrigen zum ersten Mal die Schulbank drückte. Die anfängliche Begeisterung wurde jedoch schnell erstickt. Das Kind musste erfahren, dass auch die Schule eine Welt der Erwachsenen ist: Reglementierung, Leistungsdruck, Konkurrenzdenken.
Wurzellosigkeit, permanente Unsicherheit und der Zwang, ständig etwas tun zu müssen, was nicht der inneren Bereitschaft entspricht, ist geeignet, auch schon bei Schulkindern Stress zu erzeugen, der wiederum zu schweren Neurosen führen kann. Kinder reagieren auf einen solchen Stressor (alles, was Stress erzeugt) meist extrem. Sie ziehen sich in eine totale Isolierung zurück oder beschreiten den Weg der Aggression. Nicht selten ist das mit Cliquenbildung und dem Beginn von kriminellen Handlungen verbunden.
Eltern erfahren in der Regel zu spät von einer solchen Entwicklung ihrer Zöglinge. Die Lehrer wiederum, die die Verhaltensweisen dieser Schüler tagtäglich im Unterricht erfahren, sind eher bemüht, wieder Ruhe und Ordnung in ihre Reihen zu bringen, als einem Schüler individuell zu helfen. Eine Empfehlung an die Eltern, eine Erziehungsberatungsstelle aufzusuchen, und der Fall ist vom Tisch.
Mit der „Diagnose“ des Lehrers: „Kaspert im Unterricht“, „…ist unkonzentriert“ und der Ergänzung aus dem Elternhaus: „Isst schlecht“, „…hat Einschlafstörungen“, „…kaut Fingernägel“, schreiten die Erziehungsberechtigten dann mit ihrem „Sorgenkind“ zur Beratungsstelle.
Wie Psychologen berichten, nehmen manche Eltern den Berater dann auch noch zur Seite und empfehlen dringend: „Sagen Sie dem Bengel mal gehörig die Meinung, stoßen Sie ihn mal richtig zurecht“. Und dann ist die Enttäuschung der Eltern riesengroß. Statt eines todsicheren Tipps, wie man den „Bengel“ oder das „entartete Mädel“ wieder geradebiegen kann, warten Erziehungsberater mit einem Langzeitprogramm auf, an dem sich beide Elternteile einbringen müssen.
In Gruppen wird den auffälligen Kindern zunächst das „Umfeld geändert“, wie man sich in den Beratungsstellen ausdrückt, damit sie ihre innere Haltung umso leichter überwinden können.
Eltern, die da glauben, ein gehöriger Schuss Strenge werde ihnen den Weg zur Erziehungsberatungsstelle ersparen, richten einen schweren Schaden an ihrem Kind an. Ein Do-it-yourself-Verfahren nach dem Motto „Uns haben Schläge auch nichts geschadet“, ist völlig am falschen Platz. Hier geht es gar nicht um strenge oder milde Erziehung. Die Eltern müssen begreifen, dass die Schule, so, wie sie heute ist (und wie sich auch so manches Elternhaus darstellt), der natürlichen Umwelt des Kindes immer unähnlicher wird. Das Kind reagiert darauf mit „Herumalbern“ oder „Aggression“. Werden solche Abreaktionen aber im akuten Stresszustand unterbunden, entsteht eine noch viel schlimmere Situation: Das Kind darf nicht mehr mit seinen natürlichen Körpermechanismen auf einstürmenden Stress antworten. Ein solches Verbot ist genauso fatal, wie der Versuch eines Arztes, die natürliche Abwehrreaktion eines Organismus (etwa das Fieber) schon im Anfangsstadium abzuwürgen.
Sinnvoller wäre also, einen Zustand zu schaffen, der die natürliche Abwehr nicht übermäßig beansprucht. Das versuchen Psychologen mit der Änderung des Umfeldes. Die Kinder in der Beratungsstelle dürfen in den Gruppen endlich wieder vor Wut schnauben und vor Freude quietschen. Die Erzieher – stellvertretend für die Erwachsenenwelt - sitzen nur dabei und lassen allein durch ihre Anwesenheit die natürlichen Grenzen des Erlaubten spüren.
Der Erfolg dieser Gruppenarbeit ist dennoch zumindest zweifelhaft. Das liegt schon daran, dass die meisten Eltern es an der nötigen Mitarbeit fehlen lassen. Kommen sie erst dahinter, wie stark die Reize sind, mit denen ihr „Sorgenkind“ auch noch zusätzlich im Elternhaus fertig werden muss, dann suchen sie oft das Weite.
Wegen der anhaltenden Jagd auf weiterführende Schulen steckt auch schon den Hauptschülern der Numerus clausus im Nacken. Das Zeugnis wird auch hier zum Schicksalspapier. Zeugnisjagd aber degradiert die Schule zu einem Zweckinstitut. In der Tat ist hier alles auf Zweckmäßigkeit eingerichtet. Statt die viel beschworene so genannte Psychohygiene, die Erziehung und die Charakterbildung in den Vordergrund zu rücken, vermitteln die Lehrkörper heute beinahe nur noch reines Wissen, in nicht geringem Maße auch totes Wissen. Dazu noch mit veralteten pädagogischen Lehrmethoden. Es herrscht ein eng gefasster Leistungsbegriff. Menschliche Leistungen werden wenig berücksichtigt.
Die Wahl des Lehrstoffes sollte nicht mehr vorrangig nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit getroffen werden. Den Schülern sollte wieder bewusster werden, dass das Erlernte nicht nur dazu dienen kann, „von“ etwas zu leben, sondern auch „für“ etwas zu leben. So, wie die Schule heute Wissen vermittelt, erzeugt sie bei sehr vielen Schülern systematisch Stress. Kinder, die in überfüllten Klassenzimmern von gereizten Lehrern unterrichtet werden, die mit dem Verständnis eines schwierigen Stoffes ringen, die aus trockenen Schulbüchern abstrakt formulierte, fade dargebotene „Lehrsätze“ aufnehmen müssen, reagieren biologisch zunächst einheitlich.
Als Antwort auf solche äußeren und inneren Reize werden vom Nebennierenmark Hormone ausgeschüttet, die keine andere Aufgabe haben, als den Gereizten in Rage zu bringen. Der gereizte bzw. angegriffene Schüler soll in die Lage versetzt werden (so will es die Natur), mit Wut und Gebrüll den Angreifer abzuwehren: Die Blutgefäße verengen sich, der Blutdruck steigt, der Herzschlag legt an Tempo zu. Der Schüler spürt die innere Mobilmachung, fühlt, dass er jetzt unbedingt etwas unternehmen muss, aber er darf nicht. Die verordnete Inaktivität auf der Schulbank wird zum Verhängnis. Der Stressmechanismus, ein natürlicher Freund in der Not, wird zum Feind und richtet sich gegen den eigenen Organismus.
Das „Aufputsch-Hormon“, das mit guter Absicht ausgeschüttet würde, kann nicht abgebaut werden.
Die seit Urzeiten antrainierte Kampf- oder Fluchtbereitschaft tobt sinnlos im kindlichen Organismus. Die Denkfähigkeit wird gehemmt. Das Kind „schaltet ab“, es bekommt „blinde Ohren“.
Ein solcher Riegel vor dem Gehirn kann chronisch werden und sich immer wieder vor demselben Themenkomplex schließen. Ergebnis: totales Versagen.
Statt aber Freude am Lernen zu stiften, bereiten die Schulen eher Ärger und Verdruss. Da gibt es Erbrechen vor Klassenarbeiten, Schlafstörungen, hysterische Anfälle und Sprachstörungen. Schlechte Schulleistungen und negative Erlebnisse in der Klasse steigern noch die allgemeine Unlust. Aus Angst vor dem nächsten Tag und vor dem Versagen stellen sich (nicht immer gestellte) Krankheiten ein.
Was den Schülern im wahrsten Sinne des Wortes „an die Nieren“ geht, ist auch die Perfektion der „Maschinerie“ Schule. Lehrpläne, Stoffpläne, Pausen, ja, selbst die Fahrpläne der Schulbusse sind aufs Genaueste abgestimmt. Alles geht reibungslos und zugleich erbarmungslos.
Völlig in Vergessenheit scheint geraten zu sein, dass es sich hier (zumindest in den ersten Klassen) immerhin noch um Kinder handelt, deren zentrale Persönlichkeitsbildung noch durch Spielen hervorgebracht wird. Während Erwachsene für sich eine strenge Arbeitsordnung durchgesetzt haben, damit sie nicht über Gebühr ausgenutzt werden und ihnen noch genügend Muße für den Feierabend bleibt, wird Kindern eine 60-Stunden-Arbeitswoche (einschließlich Schularbeiten und Busfahrten) ohne weiteres zugemutet.
Vordringliche Forderung bleibt: Bessere Zusammenarbeit mit Schulpsychologen, um nachhaltige psychosomatische Schäden von Kindern abzuwenden. Die Universitäten sollten Lehrstühle für die Grenzgebiete zwischen Medizin und Pädagogik schaffen, um festzustellen, wo bei Schülern die Grenzen ihrer Belastbarkeit liegen.
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