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Wer kurz vor der Pensionierung zusammenbricht

 

Stressphase

56 bis 63

 

Wir müssen uns heute mit einer ungewöhnlichen Statistik vertraut machen. Während die mehr oder weniger „unproduktive” Schicht der Gesellschaft einer immer höheren Lebenserwartung entgegenblickt, erreicht ein immer größerer Prozentsatz der so genannten Leistungsschicht nicht einmal die Pensionierungsgrenze. Wir alle haben sicher schon einmal in unserem Bekanntenkreis von einem Fall gehört, dass sich jemand im Büro plötzlich an die Brust fasste und lautlos auf den Schreibtisch sank – vielleicht nur wenige Wochen oder Tage vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben. Woran liegt das? Kann man so etwas überhaupt erklären?

Gehen wir einmal davon aus, dass wir es hier mit einem besonders aktiven Menschen zu tun haben. Entweder er bekleidet eine leitende Position in der Manageretage oder aber – wenn es nicht dazu gereicht hat – er ist mehr oder weniger mit seiner Arbeit „verheiratet”.

Dieser wie jener Mensch fühlt sich unentbehrlich. Er reißt alle Arbeit und Verantwortung an sich. Er scheut sich davor, wichtige Arbeitsvorgänge zu delegieren, weil er letztlich nur sich selbst traut.

An diesem Punkt beginnt es, kritisch zu werden. Stress ist auch die Unfähigkeit, loszulassen, abzugeben. Eine selbstverschuldete Überlastung durch ein Zuviel an aktiver Produktion.

Dazu ein Beispiel: Direktor S. bewältigt täglich (von 100 Prozent seiner Arbeit) 60 Prozent Management und 40 Prozent Produktion. Seine Tätigkeit ist ausgeglichen. Da seine Aufgaben als Manager von Jahr zu Jahr wachsen, ist Direktor S. gezwungen, von seiner Beteiligung an der echten Produktion immer mehr zu delegieren. Er tut es aber nicht, weil er sich von gewissen Arbeiten nicht trennen mag, weil er eine solche „verantwortungsvolle Tätigkeit” nicht untergeordneten Instanzen anvertrauen will – kurz, weil er sich unersetzlich fühlt. Zu seinen mittlerweile ca. 90 Prozent Manageraufgaben kommen also immer noch die 40 Prozent Produktionsbeteiligung hinzu. Das Resultat ist totale Überlastung – Stress.

Wenn dieser Mensch dann eines Tages an seinem Schreibtisch zusammensinkt, ist die Überraschung bei den Kollegen riesengroß. Zu Hause herrscht Ratlosigkeit und Verzweiflung. Wie konnte das geschehen? Hatte denn niemand etwas geahnt?

Versetzen wir uns doch einmal in die Gedankenwelt eines solchen Aktivisten, der durchaus nicht nur in der Führungsetage sitzen muss. Die ganze Aufmerksamkeit ist auf die Arbeit, noch mehr auf die Verantwortung gerichtet. Die Familie muss dabei zurückstehen, schließlich macht man nur einmal Karriere und steht so weit oben. Und dann ist ja auch in wenigen Jahren die Altersgrenze erreicht, die Pension ist dann entsprechend dem letzten Einkommen… – Na, können wir nicht dann so richtig unser Leben genießen?

 

Können wir nicht später

das Leben genießen?

 

Direktor S. in unserem Beispiel übersah tragischerweise „nur” eine Kleinigkeit, und die brachte ihn um: Er „sagte” seinem Organismus wie seiner inneren Gefühlswelt mit keiner Silbe, wie dieses „richtige Leben” konkret einmal aussehen sollte. Noch schlimmer: Er machte keinen noch so geringen Versuch der Vorbereitung, um sich selbst glaubhaft zu verstehen zu geben, dass es mit dem menschlicheren Leben in Kürze wirklich ernst wird. So konnte keine Vorfreude aufkommen. Der Organismus sah keinen rettenden Anker. Die zuletzt 130-prozentige Arbeitskapazität des Direktors S. noch kurz vor der Pensionierung beantwortete sein Körper mit immer kürzer aufeinander folgenden Alarmreaktionen. Eine Anpassung an die immer schwieriger werdende Arbeitssituation war nicht mehr möglich. Die unausweichliche Folge: totale Erschöpfung des Organismus – der Tod.

Direktor S. hätte – so er wollte – auch anders können. Er zeigt ein Höchstmaß an Reife, indem er seine Möglichkeiten nicht überschätzt. Sobald er zusätzliche Manageraufgaben übernimmt, delegiert er entsprechend Produktionsaufgaben. Er ist gut ausgelastet, aber nicht überlastet. Die Arbeit macht ihm nach wie vor Spaß. Er hat abends Muße zur Entspannung und widmet sich liebevoll seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern. Er sammelt dabei neue Lebenskräfte und hat wieder Mut, Pläne zu schmieden. Längst verschüttete Hobbys werden wieder gepflegt mit dem Ziel, sich ihnen nach der Pensionierung mit noch größerer Aufmerksamkeit zu widmen. Geist und Körper stellen sich mit einer gewissen freudigen Erwartung auf das neue Ziel ein. Diese ganz andere Grundeinstellung wie auch die behutsame Vorbereitung auf die Zeit nach der Pensionierung bleibt nicht ohne Folgen für die Arbeit des Direktors in der Chefetage. Er ist ausgeglichener und freundlicher. Er widmet sich ganz der Nachwuchsförderung und schöpft dabei aus seinem unendlichen Erfahrungsschatz.

Er wird unbeschadet die Altersgrenze erreichen. Er wird sich ohne Groll von seinem Sessel trennen können, von dem aus er viele Jahre hindurch große Macht ausgeübt hat. Schließlich erfüllt ihn neue Freude. Freude über eine neue Aufgabe.

Das Beispiel des Managers S. ist durchaus nicht nur auf die Chefetage beschränkt. Manager sind immer weniger betroffen, wenngleich sich die Problematik an diesem Berufsbild am leichtesten demonstrieren lässt. In Frage kommen nicht minder Verkäufer, Hausfrauen oder Fließbandarbeiter, um Betroffene nur willkürlich herauszugreifen. Zwar geht es bei ihnen nicht um die Ausgewogenheit von Management und Produktion, das Resultat aber – die totale Überlastung – herrscht auch bei ihnen vor.

 

Dieses war der letzte Beitrag meiner Serie "Stress - in Sieben-Jahresschritten"

 

 

 

                                                                   

Kontakt zum Autor: HelmutBendig@t-online.de

 

 

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Felix H. Bendig, Medizinjournalist, Mentaltrainer und Buchautor

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