Stress-Phase eins -
von der Geburt bis 7
„Bevor ich das Licht der Welt erblickte, wurde ich von einer Dampfwalze überrollt.“ So oder ähnlich dürfte ein neuer Erdenbürger seine Geburt beschreiben, wäre er dazu imstande. Die erste Begegnung mit Stress ist zugleich die schlimmste. Nach den dramatischsten Minuten seines Lebens ist nicht selten der Kopf des Säuglings deformiert, die Glieder sind entgegen der ursprünglichen Lage gewaltsam gestreckt, die Haut ist blau angelaufen.
Was der Säugling oft schon nach einer Woche überstanden hat, wäre für einen Erwachsenen eine todbringende Angelegenheit. Keine noch so große Operation ist einer Geburt gleichzusetzen, immer gesetzt den Fall, man könnte sie als Erwachsener erleben.
Andererseits ist natürlich die Geburt ein ganz normaler Vorgang – wie auch der Tod. Ohne Stress ist aber weder das eine noch das andere möglich. Kinderärzte sprechen von einem Geburtsschock, der sich nach diesen gefahrvollen Minuten beim Kinde einstellt. Dieser Schock wird in der Regel nach liebevoller Zuwendung der Mutter wieder beseitigt. Manchmal allerdings auch nicht. Wenn nämlich noch mehr ungesunder Stress hinzukommt
Der Grundstein für spätere disharmonische Jahre wird schon vor der Schwangerschaft gelegt. Haben sich die Eltern vorher gefragt, weshalb sie sich überhaupt ein Kind wünschen? Weil es ihm einmal besser gehen soll als Vater und Mutter? Weil es eine höhere Schulbildung bekommen und erreichen soll, was die Eltern nicht erreicht haben? Weil es ein Junge werden soll, der die Tradition des Elternhauses fortsetzt?
Diese und ähnliche Gründe reichen bestimmt nicht aus, ein Kind zu zeugen. Die Eltern müssen sich bei dieser Grundhaltung dem Vorwurf aussetzen, sie wollten das Kind aus purem Egoismus heraus zu irgendetwas benutzen. Verhängnisvoll für den Neugeborenen ist, wenn die Eltern zudem auch noch völlig unvorbereitet sind.
Viele junge Ehefrauen haben sich noch gar nicht mit der Rolle der Frau identifiziert. Wird ein Kind erwartet, dann ist es mit der Identifikation mit dem eigenen Geschlecht eigentlich schon zu spät. Die werdenden Mütter befürchten, sie könnten mit den auf sie zukommenden Problemen nicht fertig werden.
Falsche Hoffnungen und Ängste sind dann die denkbar ungünstigsten Begleiterscheinungen im Stadium des werdenden Lebens. Das „eigene“ Kind, das nicht selten wie ein Besitz betrachtet wird, muss bei dieser Grundeinstellung in den meisten Fällen enttäuschen, besonders dann, wenn die Eltern nicht gelernt haben, sich in die Welt des Kindes hineinzuversetzen.
Mindestens ein Elternteil besitzt schon sehr früh den Führerschein. Die wenigsten Eltern aber haben die „Fahrprüfung“ für die Erziehung ihrer Kinder gemacht. Dabei ist die Kindererziehung – so sollte man meinen – weit schwieriger als das Autofahren. Ein ausreichendes Angebot an Beratungsstellen und Elternschulen ist jedenfalls vorhanden.
50 Prozent aller Neurosen bei Kleinkindern könnten vermieden werden, wenn sich Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder sorgfältig vorbereiteten. Neurosen schon bei Kleinkindern? Der Deutsche Kinderschutzbund betrachtet Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Egoismus der Eltern immer noch als die größten Feinde des heranwachsenden Kindes. Beratungs- und Behandlungsstellen für Kinder und Jugendliche werden tagtäglich mit diesem Problem konfrontiert.
Psychologen fordern deshalb: Schon bei der Anmeldung beim Standesamt sollte das Brautpaar den Nachweis erbringen, dass ein entsprechender Erziehungskursus absolviert wurde. Ein anderer Weg wäre ihrer Meinung nach die Einrichtung eines Schulfaches, wobei der Schwerpunkt auf Erfahrung in zwischenmenschlichen Beziehungen liegen sollte.
Die meisten Eltern nehmen dieses Problem nicht ernst genug. Die hektische und oft unsachliche Diskussion über Erziehungsmethoden hat es ihnen auch leicht gemacht, darüber zu lächeln oder gleich alles vom Tisch zu wischen. Und im gewissen Sinne haben sie sogar Recht.
Die „alte Methode“ als autoritär und überholt verschrien, wurde mit all ihren Vor- und Nachteilen einfach über Bord geworfen. An ihrer Stelle trat aber kein gleichwertiger – geschweige denn höherwertiger – Ersatz.
Die neuen Erziehungsmethoden, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, sind für die meisten Eltern unverständlich, wenig griffig, allzu differenziert und kompliziert, so dass man sie am besten erst gar nicht zur Kenntnis nimmt. Was bleibt ist ein gefährliches „Loch“. Die Eltern sind hilfloser und unsicherer denn je geworden.
Die meisten Erzieher ihrer Kinder werden dann „rückfällig“ und setzen die „bewährte“ Züchtigungs- und Drillmethode aus Urgroßvaters und Großvaters Zeiten fort. Was dies später für das Kleinkind bedeutet, welches noch nicht so recht die „Dampfwalze“ und den Geburtsschock überstanden hat, mag dies verdeutlichen:
Die ersten zehn Lebenstage sind ohnehin der Regeneration vorbehalten. In dieser Zeit können noch unvorhergesehene Dinge passieren. Die Atmung ist hektisch, der Puls unregelmäßig, die Nahrungsaufnahme unausgeglichen, die Durchblutung der Haut unzureichend – kurz: der Säugling macht noch einen sehr mitgenommenen Eindruck.
Dies sind übrigens genau die Symptome, die uns später bei jedem anderen Stress immer wieder begegnen werden. Wenn nun eine junge Mutter völlig unvorbereitet ist und ihre Unsicherheit damit auszugleichen versucht, indem sie es mit der Genauigkeit allzu genau nimmt, schadet sie dem Säugling nur und erzeugt weiteren schädlichen Stress.
Das könnte in der Praxis so aussehen: Die Mutter sieht möglicherweise das seelisch-leibliche Wohl des Säuglings dadurch garantiert, dass sie peinlich genau auf die Einhaltung der Essenszeiten achtet. Dabei könnte es passieren, dass sie ihr Kind immer wieder aus tiefem Schlaf wecken muss. Damit begeht sie aber einen schmerzlichen Eingriff ins spontane Leben des jungen Erdenbürgers. Säuglinge und auch Kleinkinder sind – genau genommen – asoziale Wesen, die sich nur dann entfalten können, wenn sie ihrem inneren Antrieb folgen können.
Genau das ist es aber auch, was im späteren so genannten zivilisierten Leben den schädlichen Stress erzeugt: Das Handeln gegen alle natürlichen Impulse. Immerfort etwas tun zu müssen, was einem in Wirklichkeit gar nicht liegt und was auch keinen Spaß macht.
Das Leistungs- und Konkurrenzdenken der Erwachsenen macht auch vor dem Kinderzimmer nicht halt. Die Kinder sollen schnell trocken werden. Statt ruhig die allmähliche Gewöhnung an Reinlichkeit abzuwarten, manövrieren viele Eltern ihre Kleinen durch ständige Vorwürfe oder gar Strafen zunächst in eine kindliche Trotzhaltung, die später in Neurose übergehen kann.
Als Reaktion auf die strenge Erziehung „weinen“ die Kinder dann sozusagen durch die Blase. Der Leistungsdruck setzt sich fort, wenn das Kind erstmalig das Töpfchen „erklommen“ hat. Es soll dann auch gleich richtig sitzen können und die Windeln völlig vergessen. Da dies in den seltensten Fällen gelingt, werden ehrgeizige Mütter immerfort zwischen Hoffnung und Verzweiflung getrieben. Das Kind aber weiß in dieser Phase am allerwenigsten, wie es sich verhalten soll.
Bald sollen die Kleinen auch selber essen und sich selbst anziehen. Sie müssen es so früh wie möglich schaffen, nicht erst, wenn sie biologisch reif für diese Aufgabe sind. Viele Eltern schicken ihre Kinder auch viel zu früh in die Turnstunde. Nach Auffassung des Leiters des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin in Köln, Professor Dr. Hoffmann, sollten Kinder erst mit dem fünften oder sechsten Lebensjahr Schwimmen oder Skifahren lernen. Voraussetzung ist jedoch, dass die körperliche wie geistige Reife vorhanden ist. Dasselbe gilt für das systematische Reittraining, mit dem erst zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr begonnen werden sollte.
Während die einen Kinder unter dem übertriebenen Ergeiz ihrer Eltern leiden, vermissen die anderen die Zuwendung ihrer Erziehungsberechtigten umso mehr. Meist wird den berufstätigen Müttern zu spät klar, womit sie das Doppeltverdienen bezahlen müssen. In den letzten Jahren hat sich durch Einführung des Babyjahrs und Elterngeldes viel geändert. Ob sich die Einstellung der Eltern geändert hat, bleibt noch dahin gestellt. Immer noch werden Kinder wie lästige Hunde ausgesetzt oder gar gleich nach der Geburt getötet. Kinder werden vernachlässigt bis zum Hungertod. Der Staat kann nur begrenzt eingreifen und ist in den meisten Fällen machtlos, wenn sich die Einstellung der Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs nicht ändert.
Mit Beginn der Sommer-Reisewelle ist immer wieder eines zu beobachten: Säuglinge und Kleinkinder werden langen, allzu langen Autoreisen ausgesetzt. Dabei ist längst erwiesen: Selbst der Geist der Fünf- bis Zehnjährigen ist den schnell wechselnden Eindrücken bei einer Autofahrt nicht gewachsen. Die Folgen sind Kribbeligkeit und Nervosität, Leibschmerzen und Erbrechen, Durchfall oder auch Hautausschlag.
Viele Eltern wiegen sich in Sicherheit durch die gute Gesundheitsüberwachung ihres Kindes. Die Vorsorgeuntersuchungen der Krankenkassen (Babycheckhefte) lassen es an Perfektion nicht fehlen. Was jedoch fehlt, ist eine ebenso gründliche Überwachung der psychischen Gesundheit. Meist wird erst ein Spezialist herangezogen, wenn sich schon weitreichende Störungen in die kindliche Seele eingegraben haben. Werden hier entscheidende Schritte versäumt, so muss mit einer weit kostspieligeren Behandlung im späteren Leben des Kindes gerechnet werden.
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